In Westerende-Holzloog, einem Ortsteil von Westerende-Kirchloog, ungefähr zwei Kilometer von Aurich entfernt, ist die 21jährige Maria Slipschuk aus der West-Ukraine seit dem 15. Juni 1942 zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die junge Frau ist eine kleine zierliche Person von 1,54 m Größe. Ihre langen hellblonden Haare trägt sie zu einem Zopf geflochten. Sie arbeitet bei dem Bauern Aut Auts in der Landwirtschaft. Es ist wohl ihre zweite Arbeitsstelle nach der Ankunft in Deutschland.
Maria Slipschuk ist Jahrgang 1921; ihr genauer Geburtstag ist von den deutschen Behörden nicht erfasst worden. Sie stammt aus Swolizy, einer kleinen Ortschaft im Kreis Starokostjantyniw und sie ist Mitglied der griechisch-orthodoxen Kirche.

Eine von etwa 2,75 Millionen
Maria Slipschuk ist eine von etwa 2,75 Millionen Ostarbeitern und Ostarbeiterinnen, die während des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Reich beschäftigt sind. Für sie alle gilt ein diskriminierendes Sonderrecht: Sie müssen eine besondere Kennzeichnung an der Kleidung tragen („OST“), ihre Bewegungsfreiheit ist beschränkt, sexuelle Kontakte zu Deutschen sind verboten und Schwangere droht eine Abschiebung „nach Osten“.
Unklar bleibt, ob sich Maria anwerben lässt oder zur Arbeit nach Deutschland verschleppt wird, ob sie alleine kommt, mit Familienangehörigen oder Bekannten. Klar ist nur, dass sie hier in Ostfriesland Natalika Zapuk und Maria Smetaniuk kennenlernt. Die beiden sind Landsleute aus der Ukraine und im gleichen Alter. Sie müssen sieben Tage die Woche beim Landwirt Hassbargen in Barstede-Ihlow schuften; ihr Arbeitgeber behandelt sie rücksichtslos.
„Sie war fleißig und folgsam…“
Die Ehefrau des Arbeitgebers von Maria Slipschuk – Ehe Auts – ist mit „ihrer“ ausländischen Hausgehilfin sehr zufrieden. „Sie war fleißig und folgsam und verrichtete jede Arbeit, die ihr zugewiesen wurde“, sagt Frau Auts gegenüber der Polizei aus. Auch die 19jährige Ida Meinen, die seit sechs Jahren bei den Auts als Magd „in Stellung“ ist, äußert sich ähnlich: „Ich habe mich mit der Marie immer gut verstanden. Marie war sehr willig und folgsam.“ Die zwei Aussagen sind Teil eines Ermittlungsverfahrens, dessen Akten im niedersächsischen Landesarchiv, Abteilung Aurich einzusehen sind. Die Biografie von Maria basiert im Wesentlichen darauf.

Maria und Franz
Mit dem Fleiß und dem Gehorsam ist es augenscheinlich vorbei, als sich Maria im Herbst 1942 in den polnischen Zwangsarbeiter Franz Rzepecki verliebt, der im benachbarten Ort Theene in der Landwirtschaft arbeitet. Der sechs Jahre ältere Franz habe ihr die Ehe versprochen, vertraut sie der Magd Ida an und sie sei schwanger von ihm. Maria, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt ist, träumt von Heirat und einer gemeinsamen Zukunft mit Franz in der Ukraine. Sie wird von Ida und anderen gewarnt, dass „ihr“ Franz ein Schürzenjäger sei, bereits verheiratet, Frau und Kind in Polen habe. Aber Maria kann und will das nicht glauben.
Tatort – ein Heuhaufen in der Gemarkung von Barstede
Am 23. Juni 1943 gegen 17.30 Uhr und es ist noch hell – so wird es Ettje Müller später zu Protokoll geben – sei sie auf dem Rückweg an der Feldmark von Barstede vorbeigekommen. Die dort arbeitenden ausländischen Arbeitskräfte hätten sie alarmiert, dass „Maruschka und ein Pole in der Nähe auf einem Heufeld liegen und fortwährend brechen mussten. An dem Geruch stellte ich fest,“ – so Frau Müller weiter – „dass die beiden Essig Essenz genommen hatten, die Flasche wurde gleich darauf von Kindern gefunden. Ich habe Maruschka gefragt, Maruschka, warum du hier, sie klagte über Frau Auts und schlechte Behandlung durch dieselbe. Darauf habe ich Maruschka gefragt, Maruschka, warum Du dies trinken? Marschuka sagte darauf: Pole hat gekauft und trinken mit, ich muss trinken … Mehr konnte ich aus ihr nicht herausbekommen, da sie heftige Schmerzen hatte und keine Antwort mehr gab.“
Oberwachtmeister Börchers ermittelt
Der Bürgermeister von Barstede schaltet umgehend den Gendarmerieposten in Riepe ein. Es ist Oberwachtmeister Börchers, der Dienst hat und zum Tatort eilt. Er beginnt mit der Zeugenbefragung, ruft den Arzt und lässt die beiden – Franz und Maria – ins Städtische Krankenhaus nach Aurich abtransportieren.
Maria überlebt zwar noch die Nacht, erliegt dann in den Morgenstunden aber ihren schweren Verletzungen infolge der Essigsäurevergiftung. Franz kann – da er nur wenig von dem Essig getrunken hat – kurze Zeit später das Krankenhaus verlassen. Er kommt nicht frei, sondern wird in das Auricher Gerichtsgefängnis überführt und dort von der Staatsanwaltschaft verhört. Gegen ihn wird ein Verfahren wegen Abtreibung und wegen dringenden Mordverdachts eingeleitet.

Franz streitet alles ab
Franz ist bereits vier Jahre „zur Arbeit“ in Deutschland und arbeitet nun seit anderthalb Jahren auf dem Hof der Geschwister Cornelius Schröder in Theene. Im Verhör streitet er das Liebesverhältnis zu Maria ab. Er habe sie lediglich flüchtig gekannt. Am fraglichen Tag sei er nach Barstede gegangen, um Kollegen zu besuchen. Maria sei ebenfalls in Barstede gewesen, um ihre Freundinnen Natalika Zapuk und Maria Smetaniuk zu sehen. Zufällig habe er sie dort getroffen und ihr angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Es sei Maria dann unterwegs plötzlich schlecht geworden.
Doch Wachtmeister Börchers, der im sozialen Umfeld von Maria ermittelt und mit Sprachbarrieren bei den Befragungen kämpfen muss, hat letztlich keinen Zweifel, dass Franz verantwortlich für den Tod von Maria ist: „Auch wenn dem Polen die Schuld an dem Tode der Marie Slipschuk nicht einwandfrei nachgewiesen werden konnte, so sprechen die Umstände doch dafür, dass er die treibende Kraft gewesen ist und durch seine Mithilfe der Tod verursacht wurde.“
Kein Interesse an der Strafverfolgung
Die Auricher Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen wegen Abtreibung ein, denn Maria ist keine Deutsche. Im Nationalsozialismus wird mit zweierlei Maß gemessen: Deutsch-jüdische und ausländische Frauen werden zur Abtreibung gedrängt und sogar gezwungen, während für deutsche Frauen Abtreibung strikt verboten ist und unter Strafe steht.
So sorgt sich der Wachtmeister aus Riepe auch nicht um das Abtreibungsopfer Maria. Vielmehr befürchtet er, „dass die deutsche Jugend von der Sachlage Kenntnis erhalten hatte und in ähnlichen Fällen zu denselben Mitteln greifen könnte.“ Die Kinder, die die Essig-Flasche im Feld finden, wissen aber nichts von Marias Schwangerschaft, wie sich herausstellt.
Die Ermittlungen wegen Mordverdachts bzw. wegen fahrlässiger Körperverletzung werden ebenfalls eingestellt, weil – so heißt es lapidar in der Begründung der Staatsanwaltschaft – die Aussage des Opfers gegen die Aussage des Verdächtigen stehe. Damit ist der Fall für die Justiz erledigt.
Maria wird am 30. Juni 1943 in Aurich auf dem Lamberti-Friedhof beigesetzt. Das Standesamt I in Aurich gibt auf der Sterbeurkunde Selbstmord durch Vergiftung als Todesursache an. Über den weiteren Lebensweg von Franz ist nichts bekannt.
